Barrierefreiheit

Veröffentlicht 16. Mai 2024

von Clara Gies und Gesa Stüwe

Barrierefreiheit ist ein Prozess – Interview mit Ulrike Peter

Unsere beiden Expertinnen Gesa Stüwe und Clara Gies haben im Zuge des World Accessibility Days ein Interview mit Ulrike Peter, Leiterin der Zentralstelle für barrierefreie Informationstechnik des Landes Bremen (ZenbIT), geführt. Mit welchen Projekten sie und das Land Bremen sich beschäftigt und wo sie noch aktuelle Herausforderungen für die digitale Barrierefreiheit sieht, das verrät Ulrike Peter in diesem Gespräch.

Gesa Stüwe: Liebe Ulrike, kannst du uns in ein paar Worten erklären, was die Zentralstelle für barrierefreie Informationstechnik (ZenbIT) macht und welche Ziele sie verfolgt?

Ulrike Peter: Die ZenbIT ist 2019 aufgrund der EU-Richtlinie 2016 21 02 beim Landesbehindertenbeauftragten eingerichtet. In anderen Bundesländern heißen sie Überwachungs- und Durchsetzungsstellen, in Bremen sind beide Aufgaben zusammengefasst – daher Zentralstelle. Wir sind Teil des Teams des Landesbehindertenbeauftragten und nehmen so Einfluss auf die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen. Der Landesbehindertenbeauftragte ist wiederum unabhängig, da er bei der Bremischen Bürgerschaft angesiedelt ist und nicht wie in den meisten anderen Bundesländern in der Exekutiven.

Gesa Stüwe: Mit welchen aktuellen Projekten befasst ihr euch gerade oder welche Initiativen verfolgt ihr, um die Barrierefreiheit im Land Bremen zu fördern?

Ulrike Peter: Unsere Regeltätigkeit ist die Überwachung der Webseiten der öffentlichen Stellen in Bremerhaven und Bremen. Das heißt, wir testen jährlich eine mit dem Landesteilhabebeirat abgestimmte Auswahl. Dann erstellen wir einen Testbericht und bieten Beratung zu den Testergebnissen an. Die Testergebnisse gehen dann über den Bund konsolidiert auch an die EU.

Der zweite Bereich ist die Durchsetzung, das heißt, behinderte Menschen und deren Allys können sich an uns wenden, wenn sie Barrieren feststellen. Dafür gibt es ein formloses Beschwerdeformular. Dann gehen wir der Sache nach und beraten. Das ist dann ein Verwaltungsverfahren, das eine hohe Verbindlichkeit hat. Ziel ist, durch eine fachliche Beratung der öffentlichen Stellen dazu beizutragen, dass Barrieren im digitalen Bereich schnell und unkompliziert aus dem Weg geräumt werden.

Daneben haben wir noch Querschnittsthemen, z. B. unsere Veranstaltungsserie zu KI und Barrierefreiheit oder die Förderung von digitaler Teilhabe und Medienkompetenz.

Clara Gies: Mit Aussicht auf das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) werden die Tests und Prüfungen auch für Unternehmen relevant, die keine öffentlichen Stellen sind. Wird diese Prüfung auch Teil eurer Tätigkeit werden?

Ulrike Peter: Die Strategie für Bremen ist noch nicht veröffentlicht. Voraussichtlich wird sich Bremen in einem Verbund mit anderen Bundesländern zusammenschließen, weil es auch um juristische Fragestellungen und Produktabnahmen geht und weniger um die aktuelle Technikberatung. Da werden wir mit fachlicher und technischer Expertise unterstützen, selbst allerdings nicht umsetzen.

Gesa Stüwe: Bei team:a11 sind wir schwerpunktmäßig in der digitalen Barrierefreiheit unterwegs. Wo siehst du da aktuell noch die größten Herausforderungen für Unternehmen?

Ulrike Peter: Die größte Herausforderung ist, die Barrierefreiheit von Anfang an zu berücksichtigen. Der Barrierefreiheit wird in Ausschreibungen oder Vergabeprozessen immer noch nicht der Stellenwert beigemessen, den sie haben müsste, damit sie kosteneffizient umgesetzt werden kann und nicht irgendwann im Prozess oder bei der Abnahme plötzlich auftaucht. Ich habe die Hoffnung, dass dies durch das BFSG von vornherein abgefragt wird und wir es so auch direkt mit einpreisen können. Speziell in den Bereichen Projektmanagement und Qualitätssicherung können und müssen sich Unternehmen anders einbringen. Ist z. B. der Designprozess abgeschlossen oder gibt es ein Konzept zum Umgang mit redaktionellen Inhalten, sollte bereits zu diesem Zeitpunkt auf Barrierefreiheit getestet werden, um Mängel aufzudecken und zu beseitigen. Eine weitere Herausforderung, aber auch große Chance ist die Partizipation behinderter Menschen. Also Arbeitskräfte mit Behinderungen zu finden, einzustellen und onzuboarden, die in dem Bereich Kompetenz einbringen können. Unternehmen können sich ein Team aufbauen, das Produkte aus ihrer Perspektive in der Praxis testet. Die technischen Richtlinien sind eine gute Orientierung, gleichzeitig braucht es auch Erfahrung, wie behinderte Menschen mit den Anwendungen umgehen.

Gesa Stüwe: Welche praktischen Tipps hast du für Unternehmen, die sich als Ziel gesetzt haben, Barrierefreiheit vorantreiben zu wollen?

Ulrike Peter: Der erste Schritt wäre, behinderte Menschen einzustellen oder Menschen, die eine Affinität haben oder wissen, welchen Herausforderungen behinderte Menschen im digitalen Raum begegnen. Ein gutes Wissensmanagement ist ein weiterer Punkt, damit alle ein Grundwissen haben und es darüber hinaus Kompetenzteams für schnelle organisationsinterne Fragen gibt. Das W3C bietet zur Organisationsentwicklung ein Reifegradmodell, um sich selbst messen zu können. Ansonsten ist mein Tipp, Gutachten zu priorisieren und zu schauen, was wirklich relevant ist. Tastaturbedienung ist z. B. viel relevanter als ein fehlender Alternativtext auf irgendeiner Unterseite. Und ich kann empfehlen, Quick Wins schnell umzusetzen. Denn auch wenn sie nicht so relevant sind, kann man für sich und das Team sagen „Das haben wir geschafft und es geht voran“.

Gesa Stüwe: Grundsätzlich ist es ein kontinuierlicher Prozess, sich nicht nur einmal hinzusetzen und anzugucken und dann erstmal fertig für die nächsten 5 Jahre zu sein, sondern auch sehr sensibel zu bleiben, sich immer wieder Tests zu unterziehen und den Stand zu hinterfragen?

Ulrike Peter: Genau, öffentliche Stellen müssen auf ihren Webseiten die Barrierefreiheitserklärung veröffentlichen und diese jährlich aktualisieren. Dabei geht es nicht nur darum, das Datum zu ändern, sondern das Thema jährlich aufzurufen und zu prüfen, was bereits erreicht wurde und was noch aussteht. Für redaktionelle Inhalte bietet sich eine Checkliste an, um neuen Content zu prüfen. Auf redaktioneller Seite ist es nötig, die Qualität jährlich zu sichern, aber auch für größere technische Probleme Zeit- und Maßnahmenpläne zu erstellen. Bei älteren Seiten ist der Aufwand zur Nachrüstung höher, als einfach neu anzufangen. Im Vergleich zur baulichen Barrierefreiheit lässt sich bei digitalen Anwendungen leichter sagen, dass sie aufgrund der Barrierefreiheit anders aussehen dürfen und sollen.

Gesa Stüwe: Wir sind schon weit gekommen, können aber immer noch besser werden. Wo siehst du das größte Optimierungspotential im Bereich digitaler Barrierefreiheit?

Ulrike Peter: Barrierefreiheit ist ein Prozess, der nicht mit einer Produktabnahme zu Ende ist, sondern weiter beachtet und auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft größer gedacht werden muss. Barrierefreiheit bedeutet nicht nur die digitale Barrierefreiheit, sondern eben auch, barrierefreie Arbeitsstrukturen zu schaffen und mit heterogenen Kolleg:innen zusammenzuarbeiten. Ziel sollte sein, dass barrierefreie Produkte selbstverständlich sind. So wie man sich bei der Rechtschreibung mal auf Regeln geeinigt hat und sich jetzt einfach daran hält. Macht man trotzdem Fehler, korrigiert man sie. Wichtig ist aber, dass man es von Anfang an vermittelt. Ihr seid da mit team:a11y auf einem guten Weg und ich bin gespannt, wie es weitergeht.


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Clara Gies (c.gies@neusta.de) und Gesa Stüwe (g.stuewe@neusta.de) freuen sich von dir zu hören!

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