Interview mit Amy Zayed zu Digitaler Barrierefreiheit

Veröffentlicht 5. Dezember 2024

von Christine Fitch

Digitale Barrierefreiheit – Interview mit Amy Zayed

Unsere Kollegin Christine Fitch, Expertin für digitale Barrierefreiheit, spricht mit Amy Zayed, einer blinden Kultur- und Musikjournalistin, über ihre Erfahrungen und Herausforderungen im digitalen Raum. Amy, die von Geburt an blind ist, ist eine leidenschaftliche Verfechterin für Inklusion und engagiert sich in verschiedenen Bereichen wie der Inklusionsberatung. Ihre Expertise und Perspektive sind unschätzbar für die Weiterentwicklung der digitalen Barrierefreiheit. 

Magst du dich kurz vorstellen und über deine Arbeit erzählen? 

Hi, ich bin Amy Zayed, ich bin dieses Jahr 50 geworden – also eigentlich schon uralt. Ich bin von Geburt an blind und arbeite als Kultur- und Musikjournalistin. Nebenbei bin ich in der Inklusionsberatung für verschiedene Firmen tätig.  

Zusätzlich bin ich bei Inklupreneur als Mentorin und Coach aktiv. Das Unternehmen unterstützt Menschen mit Behinderung dabei, Arbeit zu finden, und sensibilisiert gleichzeitig potenzielle Arbeitgebende. Ich zeige ihnen, dass es eigentlich keine Probleme gibt, die man nicht lösen kann, wenn man Menschen mit Behinderung einstellen möchte – man muss es nur wollen. Ich mache auch den einen oder anderen Website-Check, allerdings nicht professionell, da ich das eher nebenbei mache.  

Würdest du sagen, dass du viel in der digitalen Welt unterwegs bist? 

Ja, das bin ich, schon allein durch meinen Job. Wenn du im Bereich Kultur und Musik tätig bist, kommst du an Social Media und der digitalen Welt nicht vorbei. Ich nutze viel Social Media, um meine Beiträge zu promoten und Künstler:innen zu unterstützen, die mir wichtig sind. Aber auch Themen wie Inklusion sind für mich relevant, da ich auch auf die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung in Bereichen wie Mode oder Kunst aufmerksam mache.  

Welche Tools und Technologien nutzt du als blinde Person in deinem beruflichen Alltag? 

Sowohl auf meinem Rechner als auch auf meinem Smartphone nutze ich Screenreader-Software. Bei Apple ist diese direkt ins Betriebssystem integriert, sie heißt VoiceOver. Jede:r, der ein Apple-Gerät hat, sei es ein iPhone, ein iPad oder einen Mac, kann unter den Bedienungshilfen diese Option finden. Sobald VoiceOver aktiviert ist, spricht das Gerät mit einem und gibt einem akustisches Feedback.  

Was ich auch oft verwende, ist meine Braillezeile. Das ist ein rechteckiges Gerät, auf dem sich kleine Module befinden, die sich verändern, um die Brailleschrift darzustellen. Wenn ich meinen Screenreader nutze, kann ich über die Braillezeile den Text wortwörtlich „lesen“, was mir sehr hilft. Ich kann mir Gehörtes nicht so gut merken, deswegen brauche ich das taktile Feedback, um wirklich ein Verständnis für den Text zu entwickeln. Es gibt viele Blinde, die nur die Sprachausgabe nutzen, aber das funktioniert für mich nicht. Ich bin jemand, der die Texte unter den Fingern haben muss, besonders wenn ich an längeren Texten arbeite oder Beiträge verfasse. Für meinen Windows-Rechner nutze ich JAWS, eine Screenreader-Software, die speziell für Windows entwickelt wurde. Die Software ist jedoch sehr teuer, weshalb sie in der Regel von der Krankenkasse oder dem Inklusionsamt übernommen wird. Momentan arbeitet Windows an einer eigenen Screenreader-Lösung, die auch nicht schlecht ist, aber man merkt, dass es sich noch um eine Betaversion handelt. 

Welche Barrieren erlebst du als blinde Person auf Social Media und anderen digitalen Plattformen? 

Mittlerweile muss ich sagen, dass Plattformen wie Instagram und Facebook – tatsächlich die barrierefreisten Anbieter sind. Oft werde ich gefragt, warum ich ein iPhone benutze, und der Grund ist einfach: Lange Zeit war Android nicht so weit entwickelt, was Barrierefreiheit angeht. Apple hat da mehr Erfahrung, weshalb ihr System von vielen Blinden bevorzugt wird. Selbstbestimmung ist für mich das Wichtigste, und ohne barrierefreie Geräte kann ich nicht selbstbestimmt handeln. 

Bei Tools wie Zoom und Teams finde ich Zoom am besten, weil es intuitiver ist. Browserbasierte Lösungen wie Web Access oder Blue Button sind oft schwer zu bedienen, besonders ohne Braillezeile, und die Buttons sind nicht immer richtig beschriftet. 

Das ist einer der Gründe, warum ich mich auf die großen Player konzentriere. Oftmals sind das eben die Unternehmen, die das meiste Geld in die Hand nehmen, um barrierefreie Lösungen zu entwickeln. Datenschutz hin oder her, für mich siegt am Ende die Selbstbestimmung. Wenn ich bei einem Meeting nicht eigenständig teilnehmen kann, weil die Barrierefreiheit fehlt, dann bin ich raus. Ich habe keine 13 Zofen oder 35 Assistentinnen, und das will ich auch gar nicht. 

Du testest ja auch Webseiten als Mentorin bei Inklupreneur. Magst du einmal erzählen, wie du vorgehst und nach welchen Kriterien du testest? 

Klar! Wenn ich eine Webseite teste, gehe ich immer mit zwei verschiedenen Geräten und Browsern. Der Grund ist, dass einige Barrieren nur auf einem der Systeme sichtbar werden. Manche Seiten funktionieren mit einem Screenreader auf dem Mac gut, aber auf Windows gar nicht – oder umgekehrt. Deshalb finde ich es wichtig, beide Plattformen zu prüfen. 

Ich arbeite sowohl mit meiner Braillezeile als auch nur mit der Sprachausgabe, denn nicht alle blinden Menschen nutzen die gleichen Hilfsmittel. Einige nutzen nur die Sprachausgabe, während andere, wie ich, viel mit der Braillezeile arbeiten. Deshalb prüfe ich Webseiten immer aus beiden Perspektiven – ob sie mit beiden Technologien zugänglich sind. 

Natürlich orientiere ich mich auch an den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG). Dabei achte ich auf vier Hauptkriterien: Ist die Seite robust, bedienbar, verständlich und wahrnehmbar? Ich prüfe zum Beispiel, ob die Elemente auf der Seite beschriftet sind, ob sich Schaltflächen ohne Maus bedienen lassen und ob die Navigation klar und intuitiv ist. Aber mir geht es nicht nur um die Technik. 

Ein weiteres wichtiges Kriterium ist für mich, wie die Seite auf mich als Nutzerin wirkt. Wenn ich eine Festival-Website teste, will ich wissen, ob ich ein Ticket barrierefrei buchen kann oder ob es Informationen über barrierefreie Zugänge gibt. Aber auch, ob das Unternehmen wirklich eine Willkommenskultur für Menschen mit Behinderung hat. Ich erwarte nicht, dass überall „Inklusion“ groß draufsteht, aber man sollte es spüren. 

Du sitzt jetzt ja auch gerade an deinem Arbeitsplatz. Kannst du den einmal kurz beschreiben? 

Mein Arbeitsplatz sieht ehrlich gesagt aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen! Überall liegen Zettel und Notizen herum. Links von mir liegt eine Zeitschrift in Blindenschrift, rechts weitere Papiere. Vor mir steht mein iPad, mit dem ich gerade mit dir über Teams verbunden bin. Ich benutze eine Bluetooth-Tastatur, weil das Tippen damit schneller geht. 

Auf meinem Laptop liegt auch mein iPhone, neben dem wiederum eine Apple Bluetooth-Tastatur für das Telefon liegt. Wenn ich unterwegs bin, wie zum Beispiel im Zug, schreibe ich längere E-Mails oft mit dieser Tastatur, weil die Diktierfunktion für mich nicht ideal ist. Es gibt viele Blinde, die sie nutzen, aber ich erkenne sofort, wenn jemand diktierte Texte schreibt – oft fehlen Kommas, Punkte und die Struktur. Ich bin sehr empfindlich, wenn es um Textverständnis geht, wahrscheinlich eine Berufskrankheit als Journalistin. 

Was gefällt dir denn am meisten an deinem Job als Accessibility-Testerin? 

Es ist die Möglichkeit, auf das Thema Barrierefreiheit als Menschenrecht aufmerksam zu machen. Für mich geht es darum, den Leuten zu zeigen, dass Inklusion die Basis für Selbstbestimmung ist. Demokratie braucht Inklusion, und das ist etwas, worüber viele nicht nachdenken, weil sie nie Berührungspunkte mit Behinderung hatten. Jeder vierte Mensch hat eine sichtbare oder unsichtbare Behinderung, das sind keine wenigen, und mit der alternden Gesellschaft wird es sogar noch mehr. 

Was mich besonders motiviert, ist die Möglichkeit, strukturelle Veränderungen anzustoßen. Zum Beispiel während der Pandemie: Blinde Menschen sollten nicht bemitleidet werden, weil sie die Abstandslinien nicht sehen konnten. Warum nicht einfach eine tastbare Linie aus Gaffa-Tape auf dem Boden anbringen? Es geht um pragmatische Lösungen, nicht um Mitleid. Und genau darum geht es in meiner Arbeit: den Fokus auf konkrete, umsetzbare Veränderungen zu legen, nicht auf bloße Nettigkeit oder Empathie. 

Hast du eine Zukunftsvision zum Thema digitale Barrierefreiheit? 

Meine Vision ist, dass wir eines Tages nicht mehr über digitale Barrierefreiheit sprechen müssen, weil sie von Anfang an in die Entwicklung integriert ist. Es sollte selbstverständlich sein, dass Webseiten und digitale Produkte barrierefrei gestaltet werden. Ein großes Problem ist, dass viele Barrierefreiheitslösungen überteuert angeboten werden, weil lange Zeit keine Gesetze existierten, die das regulieren. Der European Accessibility Act ist ein wichtiger Schritt, aber auch in Deutschland müssen die Gesetze weiter angepasst werden, damit Barrierefreiheit für alle zugänglich und bezahlbar wird. Es darf kein Luxus sein. 

Entwickler:innen müssen sich darüber im Klaren sein, dass Barrierefreiheit kein optionales Extra ist, sondern ein Menschenrecht. Es sollte ein grundlegender Teil ihrer Ausbildung sein, sodass sie von Anfang an darauf achten, barrierefreie Lösungen zu schaffen. Wenn das passiert, hoffe ich, dass wir in der Zukunft gar nicht mehr über das Thema sprechen müssen. 


Hier gibt es das gesamte Interview in voller Länge zu hören:


Herzlichen Dank an Amy Zayed für ihre Offenheit und inspirierenden Einblicke. Durch das Gespräch lässt sich ein tieferes Verständnis für die Herausforderungen und Chancen der digitalen Barrierefreiheit gewinnen. Amy hat gezeigt, dass Barrierefreiheit kein „nice-to-have“, sondern ein Menschenrecht ist.

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