
Veröffentlicht 11. Dezember 2025
von Thorsten Greiten
Künstliche Intelligenz zwischen Hype und Realität – wo stehen wir gerade?
Kaum ein Thema hat sich in so kurzer Zeit derart im öffentlichen Diskurs verankert wie Künstliche Intelligenz. Sie steckt in Chatbots, Text- und Bildgeneratoren, Suchmaschinen und immer mehr alltäglichen Anwendungen. Spätestens seit dem sogenannten „ChatGPT-Moment“ Ende 2022 ist Künstliche Intelligenz zwischen Hype und Realität angekommen: greifbar, massentauglich – und gleichzeitig erklärungsbedürftig.
Millionen Menschen testeten innerhalb weniger Wochen erstmals selbst KI-basierte Systeme und waren überrascht, wie flüssig und schnell komplexe Antworten generiert wurden. ChatGPT entwickelte sich zur am schnellsten wachsenden Consumer-App der Geschichte und erreichte bereits im Januar 2023 über 100 Millionen aktive Nutzer. KI wirkte plötzlich nicht mehr wie ein abstraktes Buzzword, sondern wie ein Werkzeug, das für viele unmittelbar nutzbar war.
Die Geschwindigkeit dieser Entwicklung zeigt, wie rasant sich technologische Innovation heute verbreitet. Gleichzeitig setzt bereits eine erste Ernüchterung ein. Trotz Investitionen von 30 bis 40 Milliarden US-Dollar in generative KI erzielen laut einer Studie des Projekts MIT NANDA rund 95 Prozent der Unternehmen bislang keinen messbaren Geschäftsnutzen aus ihren KI-Projekten. Der entscheidende Engpass liegt dabei weniger in Technologie, Regulierung oder Fachkräften, sondern im Fehlen von Systemen, die sich sinnvoll an bestehende Prozesse anpassen lassen.Zwischen großer Erwartung und realer Wirkung entsteht eine Lücke. Die Frage ist daher weniger, ob KI relevant ist – sondern wie tragfähig viele der aktuellen Versprechen wirklich sind.
Der Hype-Zyklus: Künstliche Intelligenz zwischen Hype und Realität
Zur Einordnung hilft der Blick auf den Gartner Hype Cycle. Er beschreibt den typischen Verlauf technologischer Innovationen: vom ersten technologischen Auslöser über den Gipfel überzogener Erwartungen bis hin zum Tal der Enttäuschungen und schließlich zum Plateau produktiver Nutzung.

Viele KI-Anwendungen bewegen sich aktuell genau in diesem Spannungsfeld. Der schnelle Erfolg von Tools wie ChatGPT hat Erwartungen massiv erhöht. In der Unternehmenspraxis zeigt sich jedoch häufig: Der Prototyp überzeugt, die Integration in Prozesse bleibt aus. Wie zuvor bei Blockchain oder Metaverse gilt auch hier, dass ohne klare Use Cases, saubere Datenstrukturen und tragfähige Governance der Übergang vom Experiment in den Regelbetrieb stockt.
KI-Systeme wirken sprachlich souverän, sind aber nicht immer zuverlässig. Text- und Bildgeneratoren liefern Inhalte, deren Qualität stark schwankt. Zudem scheitern Implementierungen oft an Schnittstellen, Zuständigkeiten oder fehlender Akzeptanz bei den Mitarbeitenden. Viele Organisationen erleben derzeit eine ausgeprägte Proof-of-Concept-Müdigkeit: Pilotprojekte zeigen Potenzial, der Schritt in die Breite wird nicht vollzogen.Ein zentraler Punkt dabei: Künstliche Intelligenz ist kein Plug-and-play-Werkzeug. Sie braucht gepflegte Daten, klare Ziele und strukturelle Einbettung. Der einfache Zugang verstärkt die Fallhöhe – was mühelos erscheint, erzeugt schnell überzogene Erwartungen. Ob wir das Tal der Desillusionierung bereits erreicht haben oder noch davorstehen, ist offen. Sicher ist nur: Die nächste Phase wird weniger laut, aber strategisch entscheidend.
Warum die Börse weiter auf KI setzt
Während viele Unternehmen noch mit der Umsetzung ringen, bleiben die Kapitalmärkte optimistisch. Aktien von NVIDIA, Microsoft oder Palantir erreichen Höchststände, obwohl viele KI-Anwendungen im industriellen Maßstab noch keinen breiten wirtschaftlichen Effekt entfalten.
Die Börse handelt Erwartungen – und diese richten sich stark auf Infrastruktur. Besonders profitieren aktuell Anbieter von Chips, Rechenleistung und Cloud-Plattformen. NVIDIA deckte laut Schätzungen bereits 2024 bis zu 90 Prozent des weltweiten Bedarfs an KI-Chips. Auch große Cloud-Anbieter gelten als strategisch gut positioniert.
Ein Grund dafür ist das Effizienzversprechen. In Zeiten von Fachkräftemangel, steigenden Lohnkosten und globalem Wettbewerbsdruck erscheint KI für Investoren als Hebel zur Produktivitätssteigerung. Hinzu kommt die narrative Kraft des Themas: Wer die überzeugendste Zukunftsgeschichte erzählt, zieht Kapital an. Parallelen zur Dotcom-Blase werden deshalb regelmäßig bemüht – greifen aber nur bedingt.
Im Unterschied zu vielen Internet-Startups der späten 1990er-Jahre erzielen heutige KI-Unternehmen reale Umsätze. Der Fokus liegt nicht auf spekulativen Geschäftsmodellen, sondern auf grundlegender Infrastruktur. KI-Tools sind sofort global nutzbar, und die Technologie funktioniert bereits in bestehenden Cloud- und Software-Umgebungen. Zudem gilt Produktivität diesmal nicht als Versprechen für die ferne Zukunft, sondern als konkret messbares Ziel. Studien von McKinsey prognostizieren bis zu 40 Prozent Effizienzgewinne in wissensbasierten Tätigkeiten.
Drei mögliche Entwicklungen
Für die kommenden zwei Jahre zeichnen sich drei realistische Szenarien ab. Im besten Fall gelingt es Unternehmen, KI nachhaltig in ihre Prozesse zu integrieren. Produktivitätsgewinne werden realisiert, neue Geschäftsmodelle entstehen, und hohe Bewertungen lassen sich durch Wertschöpfung rechtfertigen.
Im zweiten Szenario folgt eine Phase deutlicher Ernüchterung. Viele Erwartungen relativieren sich, insbesondere in Bezug auf Autonomie und strategische Entscheidungsfähigkeit von KI. Schlechte Datenqualität, gewachsene Strukturen und mangelnde Akzeptanz bremsen den Fortschritt. KI bleibt relevant, verliert aber den Status des universellen Problemlösers.
Im ungünstigsten Fall platzt eine spekulative Blase. Überbewertete Start-ups, fehlende Monetarisierung trotz gigantischer Investitionen und regulatorische Hürden könnten die Stimmung kippen. Der Sektor würde sich stark konsolidieren, der Innovationsschub bliebe – die Euphorie jedoch nicht.
Zwischen Erwartung und Gestaltung
Künstliche Intelligenz ist weder Magie noch kurzfristiger Hype. Sie ist ein grundlegender technologischer Wandel mit langfristigen Auswirkungen auf Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft. Ob wir uns aktuell im Tal der Desillusionierung befinden, ist zweitrangig. Entscheidend ist, wie Unternehmen jetzt reagieren.
Die Gefahr liegt weniger in einer Überschätzung von KI als in der anschließenden Resignation. Wer aus Enttäuschung den Gestaltungswillen verliert, verspielt Chancen. Künstliche Intelligenz zwischen Hype und Realität verlangt genau deshalb einen nüchternen Blick: strategisch, organisatorisch und kulturell.
Die Technologie wird bleiben. Wie sie eingesetzt wird, welche Werte sie transportiert und welchen Nutzen sie stiftet, ist offen. Wer heute über Pilotprojekte hinausdenkt und KI strukturell verankert, verschafft sich nicht nur technologische Kompetenz – sondern die Fähigkeit, mit der nächsten Welle souverän umzugehen.
Dipl.-Kaufm. Thorsten Greiten (50) studierte BWL mit den Schwerpunkten Steuerlehre und Wirtschaftsinformatik an der Universität Mannheim. Er ist Geschäftsführer bei NetFederation und fachlich verantwortlich für den Bereich Digitale Finanz- und Krisenkommunikation. Seit 2003 untersuchen er und sein Team von Spezialisten alljährlich die digitalen Auftritte von Unternehmen aus DAX40, MDAX und TecDAX. Mittlerweile wurden Tausende von einzelnen Websites und Social-Media-Präsenzen mit fast 2,6 Mio. Einzelbewertungen analysiert. Die Ergebnisse dieser Analysen sind bereits in zahlreiche Publikationen, Artikel und Studien eingeflossen. Zudem ist Greiten seit 2022 als Lektor mit der Vorlesungsreihe „Digitale Investor Relations“ im Department Digital Business und Innovation für die Fachhochschule St. Pölten tätig.
Sein Antrieb: Innovative Kommunikationslösungen gemeinsam mit Kund:innen entwickeln.
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